Ferdinand Hodler - La nuit
Genfer "faux-pas"
In der Stadt Calvins ging es einst prüde zu. Bei einer 1891 von der Gemeinde organisierten Ausstellung im
Musée Rath wurde Ferdinand Hodlers grossformatiges Ölgemälde «Die Nacht» kurz nach der Eröffnung
aus Gründen des mangelnden Anstands - entfernt. Hodler stellte es kurzerhand auf eigene Kosten im
Bâtiment Electoral de Genève aus, nahm Eintritt, und hatte flugs die Mittel beisammen, um es noch im
selben Jahr im Salon du Champ-de-Mars in Paris vorzustellen. Triumph. Einige Jahre später bekommt er in
der Exposition Universelle (Paris) sogar eine Goldmedaille. Es sollte sein Durchbruch werden.
Das symbolistische Ölgemälde handelt von den Dauerbrennern Liebe und Tod, ist aber zusätzlich mit
einem Schuss Humor gewürzt. Es zeigt sieben schlafende Menschen, darunter Hodler selbst, der sich
zwischen seiner damaligen Frau Bertha Stucki (rechts, mit entblößten Rücken) und seiner Geliebten
Augustine Dupin (links, bedeckt, Mutter seines Sohns) darstellte. Voll Todesangst blickt er (im Traum?) zur
unsichtbaren Person (Tod?) im schwarzen Tuch über ihm. Hodler hatte zeitlebens Angst vor dem Tod (seine
5 Geschwister starben alle an Tuberkulose), wie sein Zitat auf der Rückseite des Gemäldes nahelegt. « Plus
d’un qui s’est couc tranquillement le soir ne s’éveillera pas le lendemain matin » (Charles-François
Ponsard). Hier geht es ihm offensichtlich um die Todesangst verdrängende Kraft der Liebe. Die anderen
männlichen Personen stellen übrigens ebenfalls Hodler dar, was der Szene eine eher heitere Note verleiht.
Zum Grund des Genfer refus: es war weniger der angeblich obszöne weibliche
Rückenakt, sondern die Tatsache dass sich Hodler so ungeniert zwischen seinen
zwei Frauen darstellte, die den damaligen Genfer Bürgermeister (Théodore
Turrettini) das Bild inconvenant entfernen ließ. Motif: respect de la bienséance et
de la moralité publique. Paris hatte andere moralische Maßtäbe, und
bewunderte die Szene uneingeschränkt. Gekauft wurde das Gemälde kurz
danach vom Kunstmuseum Bern.
Vom Genfer "faux-pas" gibt es eine gelungene Persiflage in den dortigen
Archiven. Hodler ist nicht von seinen Frauen, sondern von schlafenden
Gemeinderäten umgeben. Köstlich. Diese Art von Kritik war in Genf offenbar
möglich.
Dass sich der Frauenheld Hodler kurz danach von seiner Frau Bertha trennte,
war zu erwarten. Auch dass er seine zweite Frau Berthe betrog. Diese erwarb
nach seinem Tod das Gemälde eines anderen Schwerenöters, ein gewisser
Gustav Klimt, mlich Judith I. die jetzt im Wiener Belvedere hängt. Auch dieses
Gemälde handelt von Eros und Thanatos, wurde aber von der Fin de Siècle
Gesellschaft der Donau-Metropole gnädiger aufgenommen als Hodlers Nacht am
Genfersee. Wer die schöne Judith verkörpert, ist allerdings nicht gesichert.
Amüsantes Detail: in seinem Todesjahr 1918 wurde Hodler Ehrenbürger von
Genf. Er hatte schon immer ein Händchen dafür, Niederlagen in Triumphe
umzuwandeln. Judith I.