Michelangelo - Pietà («römische»)
Zerstört und wieder auferstanden
Die Pietà im Petersdom ist die vielleicht berühmteste Skulptur der Welt.
Sie stellt die sitzende Gottesmutter Maria dar, die den Leichnam ihres
Sohnes nach der Kreuzabnahme in den Armen hält. Geschaffen wurde sie
von Michelangelo Buonarotti als Auftragswerk des Kardinal Jean Bilhères
de Lagraulas, Benediktinerabt von Saint Denis und Botschafter Karls VIII.
beim Vatikan für sein zukünftiges Grabmal. Der Vertrag sah eine
lebensgroße Statue vor, die so der explizite Vertragstext alle bis dahin
in Rom bekannten Marmorkunstwerke an Schönheit übertreffen sollte
eine angesichts der Fülle antiker Statuen in Rom äußerst kühne Forderung.
Die Skulptur sollte laut Vertrag innerhalb eines Jahres vollendet werden.
Als Honorar waren relativ bescheidene 450 Golddukaten (etwa 50.000
Euro) ausgemacht.
Michelangelo war damals nur 24 Jahre alt. Er meißelte die lebensgroße
Statue aus einzigem Marmorblock heraus, den er aus Carrara beschafft
hatte. Mehrere Details seiner Darstellung sind auffallend. Zuerst die
Jugendlichkeit Marias - sie erscheint fast jünger als ihr Sohn Jesus. Und
dann die Größenverhältnisse. Würden die natürlichen Größenverhältnisse
gewahrt, müsste der Körper Jesu fast zwangsläufig als zu groß und zu
schwer erscheinen, um von Maria auf dem Schoß gehalten werden zu
können. Michelangelo reduzierte also den Körper Jesu.
Zum anderen achtete er aber darauf, bei den Häuptern der Figuren,
welche einen direkten Vergleich ermöglichen, die Proportionen zu
wahren. Heute weiss man, dass all diese Abweichungen von der Realität
der Ästhetik geschuldet, und damit gewollt waren.
Gewollt war vermutlich auch der überzählige fünfte Schneidezahn des
Leichnams. Er findet eine Erklärung in Marco Bussaglis Buch „I denti di
Michelangelo“ (2014). Er zeigt dass sich ein überzähliger Mittelzahn auch
bei Figuren in der Sixtinischen Kapelle findet, etwa den Verdammten des
Weltgerichts, aber auch bei einem Henker in der Kreuzigungsszene der
Cappella Paolina. „So ein Zahn gilt als Symbol der Sünde. So wollte der
Künstler wohl ausdrücken, dass Christus die Sünde der ganzen Welt ans
Kreuz getragen hat“. Für Zahnärzte bleibt dies dennoch ein Rätsel.
Schließlich wäre da noch die in römischer Antiqua gemeißelte Signatur in
der Schärpe, die quer über die Brust der Madonna verläuft:
MICHEL.A[N]GELVS BONAROTVS FLORENT[INVS] FACIEBA[T]. Sie sollte die
einzige Signatur eines Werks von Michelangelo bleiben. Er hatte es
vermutlich nicht mehr nötig.
Seine Pietà wurde ein einziges Mal aus dem Petersdom entfernt. Dies
geschah 1964 aus Anlass der Weltausstellung in New York. Die 2600
Kilogramm schwere Statue kehrte zum Glück unbeschadet zurück. Zuvor
wurde jedoch eine Kopie angefertigt, was sich als extrem wichtig für
später herausstellen sollte.
Am 21. Mai 1972, nach der Papstmesse, zog nämlich ein bärtiger,
exzentrisch aussehender Mann einen Hammer aus seinem
Regenmantel und hieb mit wuchtigen Schlägen auf die Skulptur ein.
Dabei schrie er mehrmals ‘I am Jesus. Die Schmerzensmutter verlor
dabei einen Arm, erlitt einen Nasenbeinbruch, Schrammen und Risse
am Auge und am Schädel. Als Täter stellte sich ein 33-jähriger
geisteskranker in Australien lebender Exilungar namens Laszlo Toth
heraus. Man steckte ihn in die Psychiatrie und er wurde drei Jahre
später aus Italien ausgewiesen. Dabei entbehrte seine Begründung für
den Anschlag nicht einer gewissen Logik: Lazlo hielt sich nämlich für
den auferstandenen Jesus, und wenn Jesus am Leben ist, stellt eine
Pietà mit dem toten Gekreuzigten eine Verkehrung der Wirklichkeit
dar, die zu beseitigen ist. Auch deshalb, weil die Kirche, so Laszlo Toth,
mit dieser bewussten Falschinformation ihre Existenz sichern will;
einen lebenden Christus könne sie nicht verkraften.
Hört sich gar nicht sooo verrückt an. Laszlo beziehungsweise der
zurückgekehrte Jesus hätte seine Theorie gern seinem irdischen
Stellvertreter Papst Paul VI. vorgetragen, doch der beantwortete seine
Briefe nicht und wollte ihn auch nicht in Castel Gandolfo empfangen.
Irgendwie verständlich.
Die beschädigten Stellen der Pietà konnten anhand der früher
angefertigten Kopie aus einer Mischung von Polyesterharz mit
Marmormehl getreu dem Original wiederhergestellt werden. Seit
dem Attentat ist die Skulptur aber mit Panzerglas gesichert. Sie kann
nur mehr von unten und von vorn, sowie aus einiger Entfernung
betrachtet werden, eine „barbarische" Sichtweise, meinen viele.
Allerdings gibt es in der Sakristei des Petersdomes und
den Vatikanischen Museen Nachbildungen der Pietà, die man aus
nächster Nähe betrachten kann. Reisemuffel aus mehr nördlichen
Gefilden können aber auch eine Kopie in der Sankt-Hedwigs-
Kathedrale in Berlin bewundern. Es handelt sich um genau jenen
Abguss, der vor der USA-Reise des Originals 1964 in Rom gemacht
wurde.
Pietà Abguss Berlin