Paul Klee Grenzen des Verstandes
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte
Paul Klee schuf das Gemälde während seiner Lehrtätigkeit am Bauhaus in Dessau. Dort
fanden angesichts der technischen und wissenschaftlichen Fortschritte lebhafte Debatten
über die sich abzeichnende technologische Ausrichtung der modernen Kunst statt. An
Schlüsselbegriffen, wie Konstruktion, Rationalität und Intuition schieden sich progressive
und konservative kulturpolitische Tendenzen. Klees jüngerer Kollege Lászlo Moholy-Nagy
etwa ortete eine Konvergenz von Kunst mit Technik und Wissenschaft, während Klee
selbst eine solche Konvergenz in Frage stellte, ihre Grenzen auslotete und die Intuition als
die Kraft des Schöpferischen im Menschen betonte.
Klees Gemälde mit dem kryptischen Titel Grenzen des Verstandes* muss in diesem
Spannungsfeld gesehen werden. Was wollte der Künstler ausdrücken? Zahlreiche
Kunsthistoriker haben diese Frage mehr oder weniger langatmig beantwortet, fanden
aber im Wesentlichen nur die lang bekannte Binsenweisheit bestätigt: mit dem Verstand
alleine kann man der Kunst und den letzten Wahrheiten des Lebens nicht beikommen.
*Interessanterweise hinterließ Klee diesen Titel nicht wie üblich am unteren Bildrand, sondern begnügte sich mit der
Bezeichnung "Klee Omega 8 1927" am oberen Bildrand. Überraschend ist auch dass das Werk nicht zur Kategorie
«Sonderklasse unverkäuflich» gehört, die Klee für Werke verwendete, denen er eine besondere Bedeutung beimaß
und die er für seine Nachlasssammlung vorsah.
Titel
Zum Bild selbst. Klee wählte für seine Darstellung eine filigrane Strichkonstruktion von Leitern, die sich aus
einem stilisierten Kopf mit Augen hoch ranken bis zu einer Art „Sonne“. Mit dieser sind sie aber nur durch
einen hauchdünnen Strich verbunden. Die Konstruktion symbolisiert die neue Technik, wobei das fast
mathematisch konstruierte Linienfeld als Hinweis zur „Denkkraft“, Berechnung, Rationalisierung, Technik
und Industrie hin aufgefasst werden kann. Manche Betrachter erinnert sie sogar an Drähte für Strom und
Telefonleitungen, wie sie seit den zwanziger Jahren immer mehr in die Landschaft wuchsen.
Wohin führt die Konstruktion? Auf eine höhere Ebene? Die Sonne, das über allem strahlende
Himmelsgestirn, das höhere Einsicht und letzte Wahrheiten versinnbildlicht, erreicht sie jedenfalls nicht. Mit
den schwankenden Leitern der Intuition gelangt man lediglich in die Nähe des verborgenen Vollkommenen.
Klee nimmt also auf subtile und ironische Weise Stellung gegen den utopischen Rationalismus des
Bauhauses und seiner zunehmend technologischen Tendenz. Seine Sehnsucht nach dem Aufstieg in eine
höhere geistige Sphäre ist unverkennbar. Dies bestätigen seine schriftlich hinterlassenen Kommentare:
»Wir konstruieren und konstruieren, und doch ist Intuition immer noch eine gute Sache. Man kann ohne sie
Beträchtliches, aber nicht alles«, oder
»Im obersten Kreis (der Kunst) steht hinter der Vieldeutigkeit ein letztes Geheimnis und das Licht des
Intellekts erlischt kläglich
Letzteres ist vermutlich, was Klee vermitteln wollte. Im Denken gibt es Bereiche, die schwer oder sogar
unmöglich zu erfassen sind. Ein solcher Bereich ist die Kraft des Schöpferischen im Menschen. Sie bleibt ein
Geheimnis, und dies sowohl in Kunst als auch in Wissenschaft. Klees gemalte Parodie fordert den Betrachter
auf, über diese Begrenzungen des Verstandes nachzudenken und die Vielschichtigkeit der menschlichen
Gedankenwelt zu erkunden.
Leider ist das Gemälde derzeit unzugänglich. Es gehört zum Bestand der Pinakothek der Moderne in
München, einem der Vorzeigemuseen der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, wird aber nicht
ausgestellt. Wahrscheinlicher Grund dafür ist dass es schon seit Jahren von den Erben des deutschen
Sammlers jüdischer Abstammung Alfred Flechtheim zurückgefordert wird.
Flechtheim causa:
Alfred Flechtheim war einer der einflussreichsten Kunsthändler und Sammler der Weimarer Republik und
wichtiger Förderer avantgardistischer Kunst. Er flüchtete 1933 vor den Nationalsozialisten und starb 1937
verarmt in London. Unter den in der Berliner Wohnung von seiner Witwe Bertha Flechtheim nach deren
Selbstmord 1941 beschlagnahmten Kunstwerken soll sich nach Zeitzeugenaussage auch Klees "Die Grenzen
des Verstands" befunden haben. Nachdem dieses unter ungeklärten Umständen in fremden Besitz
überging, gelangte es 1971 als Vermächtnis in den Bestand der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen.
Die in den USA lebenden Erben nach Flechtheim (Großneffe Michael Hulton und dessen Stiefmutter)
verlangten die Herausgabe des Gemäldes mit der Begründung es handle sich um NS-Raubkunst. Die
Bayerischen Staatsgemäldesammlungen hingegen gingen von einem rechtmäßigen Erwerb aus und
lehnten dies ab. Erste Verhandlungen verliefen ergebnislos, sodass die Erben im Jahre 2016 in New York
Klage gegen den Freistaat Bayern einreichten. Die Klage wurde jedoch - ähnlich wie im Fall Mendelssohn-
Bartholdy-Pablo Picassos "Madame Soler-2018 wegen fehlender Zuständigkeit des US-Gerichts aufgrund
der Immunität des Freistaats Bayern abgewiesen. Zu dem Ende 2022 neuerlich eingereichten
Restitutionsantrag habe die „Tiefenrecherche“ begonnen, sagt die Direktion der Bayerischen
Staatsgemäldesammlungen ....
Zeit war‘s KY Feb. 2024