Lascaux-Legende
Was Picasso sicher nicht sagte
Die ''Sixtinische Kapelle der Urgeschichte’’ in Lascaux gilt manchmal als Nullpunkt
der Kunst. Das ist zwar übertrieben, denn Höhlenkunst gab es im
Jungpaläolithikum (40 000-10 000 AD) fast in der ganzen Welt, allein in Europa sind
um die 40 Bilderhöhlen bekannt, aber manche Aspekte von Lascaux sind
tatsächlich einmalig. Dazu gehört die Fülle an Wandmalereien die wie
prähistorische Wimmelbilder anmuten. Insgesamt zeigen sie um die 1000 Figuren,
meist Tiere (etwa Bisons und Stiere) oder Fabelwesen (Einhorn), und dazwischen
eine Fülle von rätselhaften Zeichen (siehe Protorunen).
Kein Wunder dass die Malereien spätere Künstler beeinflussten. Dazu soll auch
Picasso gehört haben, zumindest liest man es so in den meisten Artikeln über
Lascaux. Bei der Besichtigung der Höhle soll unser Stier-Aficionado ausgerufen
haben: Wir haben nichts Neues gelernt, oder "Wir haben nichts erfunden" oder
gar Ninguno de nosotros es capaz de pintar asi(none of us can paint like this).
Klar dass derartige Aussprüche von einem so gefeierten Künstler ihr Gewicht
haben, und die vorgeschichtliche Höhlenkunst in fast überirdisches Licht tauchen.
Picasso war ja wie ein Schwamm der alle Einflüsse aufsog und sie in seine Werke
einfliessen liess. Solche Aussprüche von ihm sind also a priori nicht von der Hand
zu weisen.
Lascaux-Protorunen
So schön, so gut. Niemand hat sich aber die Frage gestellt: War Picasso je
in der Höhle von Lascaux ? Wenn ja, was hat er dort wirklich gesagt ?
Bescheidenheit war ja nicht seine Zierde. Diesen Fragen ist erst in jüngster
Zeit (2005) der Archäologe Paul Bahn nachgegangen. Sein Verdikt: es gibt
keinerlei Hinweis für einen etwaigen Besuch Picassos in der Lascaux
Höhle, und auch in keiner anderen der bekannten vorzeitlichen Höhlen.
Nicht nur das, die obigen Aussprüche sind frei erfunden. Marina Picasso,
die ein Buch über ihren Grossvater schrieb, antwortete auf die Frage ob
die Höhlenkunst ihren Grossvater beeinflusst hätte, mit einem
unmissverständlichen "celà ne lui évoquait rien". Auch in anderen
Biographien gibt es keinerlei Hinweise für einen Besuch Picassos in einer
dieser Höhlen. Sicher ist nur dass Picasso eine Kopie der Venus von
Lespugue besass, und dass sich die üppigen Formen dieser Statuette in
der Darstellung seiner Musen nicht offenbaren. Auch ist es zweifelhaft ob
er, der grosse Erotiker, die erotische Darstellung der Bison/Löwen-Frau in
der Chauvet Höhle kannte. Hätte er sie gekannt, hätte sie ihn sicher zu
einer künstlerischen Stellungnahme à la Fornarina inspiriert.
Zusammenfassend kann man getrost behaupten, dass die Höhlenkunst
von Lascaux einen schlagenden Beweis dafür liefert, wie beim Vermarkten
von Kunstwerken geschwindelt wird, und wie sich diese Schwindeleien
durch stete Wiederholung zu einer unausrottbaren Legende verdichten.
Bison/Löwe-Woman
Chauvet
Venus von Lespugue
-25 000
Picasso-Fornarina