Atomium Bruxelles
Die Legende der „friedlichen Nutzung von Kernenergie“
Das architektonisch gewagte, 102 Meter hohe und 2400 Tonnen schwere Ungetüm aus 9
Stahlkugeln wurde für die Weltausstellung 1958 errichtet, und sollte die friedliche Nutzung
von Kernenergie” symbolisieren. Wie bei derartigen „temporären“ Schauobjekten üblich, steht
auch dieses heute noch im Heysel-Park sieben Kilometer nordwestlich der Innenstadt von
Brüssel. Damals deutete nichts darauf hin dass Brüssel einmal Hauptstadt der EU und das
Atomium zum Wahrzeichen der Stadt würde. Tour Eiffel von Brüssel.
Aus der Form des drallen Gebildes ist leicht ersichtlich dass es Atome darstellt. Fragt sich nur,
welche. Als Symbol für die Kernenergie denkt man zuerst an Uran. Fehlschluss. Das Gebilde
stellt nicht Uran- sondern Eisenatome dar. Das sieht man an der Disposition der Kugeln, die -
im Jargon der Kristallographie - einen Ausschnitt der kubisch raumzentrierten Struktur von
Eisen zeigen.
Und warum gerade Eisen? Eisen hat ja mit der “friedlichen Nutzung von Atomenergie” wenig
zu tun. Des Rätsels Lösung: das Atomium wurde als Hommage an die damals prosperierende
belgische Stahlindustrie errichtet. Sein Erbauer, André Waterkeyn, war immerhin Direktor
einer der großen belgischen Stahlproduzenten, und Belgien war Gründungsmitglied der noch
jungen Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, "Montanunion" 1951). Atomstruktur Eisen
Waterkeyn wollte also etwas Besonderes bauen. Das gelang ihm auch.
Seine gewagte Konstruktion besteht aus Stahlkugeln mit einem
Durchmesser von je 18 Metern, verbunden durch 23 bis 26 Meter lange
Röhren, die gewissermaßen interatomare chemische Bindungen
darstellen. Insgesamt fünf der neun Kugeln sind noch heute zugänglich
und mit Rolltreppen innerhalb der Röhren miteinander verbunden. Ob
die 9 Kugeln die 9 ehemaligen Provinzen Belgiens darstellen ist ungewiss.
Es war für Brüssel eine gute Investition. Bezug zur Kernenergie gab es
aber nie, wenn man vom Nuklearreaktor absieht, der sich ursprünglich als
Anschauungsobjekt unter dem Atomium befand, der aber heute an
der Universität Basel steht. Wie sollte es auch, Atome sind keine
Atomkerne, sondern die Gesamtheit eines Kerns mit seinen umhüllenden
Elektronen. Das Symbol für die “friedliche Nutzung von Kernenergie” ist
also eine Legende, was aber der Attraktivität dieses Wahrzeichens von
Brüssel keinen Abbruch tut. Das wird natürlich heute nicht mehr erwähnt.
Manche Legenden haben halt ein langes Leben. 9 Atome = 9 ehemalige Provinzen?
Dazu noch eine kleine Anekdote, welche die politische Situation der
Nachkriegszeit beleuchtet, mit all ihren nationalen Ressentiments.
Zur Erinnerung: Belgien wurde zu Beginn des zweiten Weltkrieges von
Deutschland überrannt, und es gab daher beim Bau des Atomiums
(1958) noch starke antideutsche Gefühle. Bei seiner Eröffnung war in
einer der mittleren Kugeln die Ausstellung der deutschen Eisen- und
Stahlindustrie untergebracht.
Als der damalige bundesdeutsche Wirtschaftsminister Ludwig Erhard
(Vater des deutschen Wirtschaftswunders) seinen Besuch ansagte,
war für seine Landsleute klar dass er die Kugel nicht zu Fuß erreichen
sollte, sondern mit dem Atomium-Lift, der normalerweise zur
obersten Kugel durchfährt ohne anzuhalten. Es wurde also von
deutscher Seite gebeten, dass der Lift für den mit Leibesfülle
gesegneten Minister in der Mittelkugel extra anhalte, damit dieser die
deutsche Schau bequem über eine Treppe erreichen könne. Dies
lehnte der Verwaltungsdirektor des Brüsseler Atomiums jedoch
ab. Die Gründe dafür ließ er im Ungewissen. Gewiss war nur dass er
noch am gleichen Tag seinen Posten räumen musste.
Ein weiterer collateral damage von WW2. K.Y. 2020
1958
Adenauer mit Erhard