Alberto Giacometti L'Homme qui marche
Braucht es all diese Interpretationen?
Erstaunlich diese spindeldürre, langgliedrige Gestalt, die einen gehenden
Menschen darstellt. Seit er von den Bäumen herabgestiegen war,
durchstreifte er die sonnendurchfluteten Savannen mit aufrechtem Gang
und erhobenen Hauptes. Das Schreiten auf nur zwei Beinen erlaubte ihm
Weitsicht und verschaffte ihm Überblick. Symbolisiert die Skulptur die
Entwicklung der ganzen Menschheit? Oder ist es eher ein Relikt aus der Zeit
Giacomettis, wo er noch der Philosophie des Existenzialismus nachhing, und
eine Skulptur schuf, die später zur Ikone der Existenzialisten werden sollte?
Oder wollte er lediglich die demütige Darstellung eines einfachen Mannes
zeigen, wie man in einem Verkaufskatalog lesen konnte?
Die Interpretationen dieser Skulptur sind zahlreich. Sie überschlugen sich
geradezu bei deren letzten Versteigerung im Jahre 2010, und dem darauf
folgenden Medienrummel über das damals teuerste Kunstwerk der Welt.
Die Auktion bei Sotheby's in London hatte mit dem unglaublichen
Hammerpreis von 104 Mio $ (75 Mio Euro) geendet, und das nach nur 8
Minuten Bietergefecht. Der Schätzpreis lag bei nur einem Fünftel davon.
Vom Gewicht der Bronze her wäre Gold auch heute noch viel billiger. Ob
Rodins (kopfloser) "Homme qui marche" mit seinen 312 kg mithalten kann,
ist fraglich.
Ein Jahrzehnt später mutet dieser Preis schon wieder bescheiden an, v.a.
wenn man ihn mit den inzwischen erzielten 450 Mio $ eines Salvator
Mundi vergleicht. Kehrseite derartiger Rekordsummen ist, dass öffentliche
Sammlungen noch seltener Werke von bekannten Künstlern erwerben
können, und dass die Versicherungsprämien derartiger Werke
astronomisch ansteigen.
Interessant bei dieser Skulptur ist auch, wie der sehr eigenständige Stil
Giacomettis von verschiedenen Kunstkritikern und Kuratoren je nach
Zeitperiode entweder Einflüssen von Germaine Richier, ägyptischer Kunst
oder den Etruskern zugesprochen wird. Leider kann der Künstler zu
solchen Vereinnahmungen keine Stellungnahme mehr abgeben.
Insbesondere der häufig zitierte Vergleich mit der etruskischen Bronze
"Ombra della Sera” (Volterra, 3. Jahrhundert v. Chr.) würde ihm vermutlich
wenig Freude bereiten. Er mag zwar für Giacomettis zeitgleich geschaffene
"Grande Femme debout" gelten, nicht aber für den "L'Homme qui
marche". Erstere ist immobil, wie im Werk der Etrusker, während letzterer
geht. Die Behauptung, Giacometti habe mit diesen Skulpturen
unterschiedliche Verhaltensweisen von Mann und Frau thematisieren
wollen, würde ihm vermutlich ebenfalls wenig Freude bereiten. Gefreut
hätte er aber sich darüber, dass seine Plastik "LHomme qui marche" einige
Jahrzehnte später in vier verschiedenen Perspektiven auf der Rückseite der
100 Fr Banknote abgebildet ist, und damit in jedem Wechselbüro
bewundert werden kann.
Ombra delle sera li
Gde Femme debout re
Seit ihrer Entstehung ragt die Skulptur Giacomettis aus mehreren
Gründen heraus. Mit 183 cm Höhe ist sie seine erste lebensgrosse
Plastik. Es war auch das erste mal dass der Schweizer Künstler eine
öffentlichen Auftrag annahm (Chase Manhattan Bank New York, Jan.
1959). Er fertigte sie zwar erst 1960 nach vielem Zögern und
herumprobieren in zwei verschiedenen Versionen an (L’Homme qui
marche I und L’Homme qui marche II) -wobei die US- Bank ihren Auftrag
zurückzog, heute gibt es aber davon nicht weniger als sechs Bronzegüsse
und vier Künstlerexemplare. Die hier gezeigte Skulptur kaufte
ursprünglich der Kunsthändler Aimé Maeght und verkaufte sie alsbald
wieder, bevor sie auf Weltreise ging. Zunächst in die USA, wo sie in
kurzer Zeit mehrmals den Besitzer wechselte. Dann ging sie wieder
zurück nach Europa und wurde die Trophäe einer Bank in Dresden.
Wo sie heute ist? Wahrscheinlich im fernen Osten. Ob man sie je wieder
öffentlich sehen wird ist fraglich.
Fondation Maeght