Wien 1957
1957
Das Photo zeigt uns “Graz-Liebenauer” während der Wienwoche 1957, artig aufgereiht vor dem
Portal der kriegsgeschwärzten Votivkirche. In Erinnerung blieben mir aber Details des damals noch
schwärzeren Stephansdoms. Auf seiner romanischen Westfassade aus dem 12 Jhdt. ragen unter
den sogenannten “Heidentürmen” zwei Doppelsäulen empor, die den kryptischen Namen
“Salomonischen Säulen“ tragen. Pikanterweise sind beide mit der Darstellung von menschlichen
Genitalien abgeschlossen, links ein Phallus und rechts eine Vulva. Dabei handelt es sich weniger um
eine in Stein gemeisselte Einladung den Dom als göttliches Freudenhaus zu betreten, als vielmehr
um ein Symbol der göttlichen Schöpfung (Adam & Eva) oder möglicherweise der Trennung der
Geschlechter beim Zugang zum Gotteshaus: Männer links, Frauen rechts. Das ist aber nicht
gesichert. Wie auch immer, es war für uns 14-Jährige erheiternd, an einer erzkatholischen Kirche
zwei so freizügige Symbole vorzufinden.
Dieser Umstand weckte mein Interesse, Kunstwerke, insbesonders sakraler Natur, besser einordnen
zu können. Dazu obiges Gemälde. Es stammt von Ferdinand Petzl und zeigt einen unfertigen
Kirchturm ohne erkenntliche Besonderheiten, seien es schlüpfriger Natur. Als es mir mein Vater
schenkte, war Titel und Malort unbekannt. Es brauchte einige Zeit um herauszufinden dass es sich
um den weniger bekannten Nordturm des Stephansdoms handelt. Dieser wurde aus finanziellen
Gründen nie vollendet, beherbergt aber (seit Okt. 1957, d.h. kurz nach unserem Besuch) die 20
Tonnen schwere Pummerin, grösste Glocke Österreichs, gegossen aus zurückgelassenen Kanonen
bei der Zweiten Wiener Türkenbelagerung 1683. Zum schiessen!
An alle Eltern: nicht verzagen, der in der Jugend gesähte Samen geht auf. Man muss das Pferd nicht
immer zur Tränke führen, manchmal trinkt es auch von alleine.
Westfassade