Austron 1998
AUSTRON war ein internationales Projekt einer Grossforschungseinrichtung, ähnlich dem ESRF
in Grenoble, die in Österreich beheimatet sein sollte. Als Vorsitzender des Wissenschaftrats des
ILL und Mitglied des Wissenschaftsrats des ESRF wurde ich zur Mitarbeit auserkoren*).
Wie in solchen Fällen üblich, liessen die Diskussionen Zeit für anderes. Im Wiener Leopold
Museum begegneten wir dem Gemälde Kardinal und Nonne (Liebkosung) von Egon Schiele. Es
stellte zu seiner Zeit einen flagranten Verstoß gegen den Moralkodex der Kirche dar. Eine auf
nackten Beinen kniender Kardinal umarmt eine auf ebenso nackten Beinen kniende Nonne in
aufdringlicher Gestik, während sich letztere erschrocken zum Betrachter abwendet. Beide wie
mit zum Gebet gefalteten Händen. Shocking. Unerhört.
Im Gemälde geht es vermutlich weniger um eine Kritik des Zölibats, sondern um ein radikales
Gender-Spiel, wobei man nicht sicher ist, wen die erschrocken blickende Nonne darstellt, und
wen der lüsterne Kardinal. Fast scheint es, als ob Schiele dem Kardinal und der Nonne seine
eigene und Wally Neuzils Identität zuordnen wollte, aber mit vertauschten Geschlechterrollen.
Wessen Füße hat der Kardinal, und welches Gesicht? Schieles oder Wallys? Ist das schon
Transgender oder Travestie? Ein Vorbote der Sittenlockerung in modernen Zeiten?
Wie so oft in der Menschheitsgeschichte waren die Vertreter der schönen Künste ihrer Zeit
voraus.
*) Das Projekt wurde von Österreich unzureichend unterstützt und schliesslich auf seine medizinische Anwendung
(Bestrahlung von Tumoren) reduziert. Es wurde im Jahr 2012 unter dem Namen als Med-Austron in Wiener Neustadt
fertiggestellt
1998